Nicht selten erkennen Betroffene erst, dass sie selbst betroffen sein könnten, nachdem bei ihrem Kind ADHS festgestellt worden ist. Denn die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gilt als hauptsächlich genetisch bedingt. Eine klinisch-psychologische Testung bestätigt den Verdacht häufig, berichten Psychologen.
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge sind weltweit rund fünf bis zehn Prozent der Menschen von ADHS betroffen. Eine stark erhöhte Nachfrage bei Erwachsenen mit frischer ADHS-Diagnose verzeichnen Michaela Hartl und Martin Eisner sowohl in ihrem Coaching-Unternehmen 8ung für Menschen im Neurodivergenzspektrum wie auch in ihrem Verein Team ADHS.
Wie ein Dauerjetlag
Bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS wie auch ADS (ohne den Faktor Hyperaktivität) sind einzelne Hirnregionen weniger aktiv, es liegt eine Signalstörung vor. ADHS gilt als eine Störung des Gehirnstoffwechsels. „Die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin sind im Gehirn nicht da, wo man sie braucht. Sie sind verantwortlich für exekutive, also ausführende Funktionen“, erklärt Hartl im „Wien heute“-Interview.
Beide Neurotransmitter gelten als Zünder für Motivation und Antrieb. Sie sorgen auch dafür, dass die Aufmerksamkeit gezielt fokussiert werden kann. Was Menschen ohne ADHS manchmal – an „schlechten“ Tagen – nicht gut auf die Reihe bekommen, sei es, dass sie im Alltag Dinge verlieren oder liegen lassen oder Aufgaben nicht erledigen, sei für Menschen mit ADHS meist Normalität, erklärt die Pädagogin, Autismusfachberaterin und ADHS-Trainerin.
Das Gehirn eines Menschen mit ADHS ist laut Hartl in etwa so gefordert wie jenes von neurotypischen Menschen, die sich im Ausnahmezustand oder im Stress befinden. Manche vergleichen den Zustand mit einem Jetlag – nur eben permanent.
Probleme, den Alltag zu organisieren
ADHS zeigt sich bei Erwachsenen etwas anders als bei Kindern. Erwachsene mit ADHS haben oft Probleme, ihren Alltag und ihre Arbeit zu organisieren, Termine einzuhalten, sich über längere Zeit auf Aufgaben zu konzentrieren. Es sei denn, sie bleiben an bestimmten Themen hängen und vergessen alles um sich herum – auch Hyperfokussierung genannt. Dinge, die nicht „zünden“, also kein Interesse wecken, werden unterdessen oft nur unter erheblichen Schwierigkeiten erledigt.
ADHS bei Erwachsenen
Auch Erwachsene können eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – kurz: ADHS – haben. Die Diagnose erfolgt allerdings meist erst spät. Erwachsene mit ADHS haben oft Probleme, ihren Alltag und ihre Arbeit zu organisieren.
Den Betroffenen fällt häufig auch das Zeitmanagement schwer, wie die Fotografin Sarah Fellner im „Wien heute“-Interview schildert, etwa wenn sie in einer halben Stunde einen Termin habe. „Das Problem ist, ich habe dieses Bild nicht von – was ist eine halbe Stunde? Das fehlt mir gänzlich. Für mich heißt das: Ok, dann kann ich in der Zwischenzeit noch duschen, noch essen, noch Wäsche zusammenlegen, 500.000 andere Sachen machen, was aber nicht stimmt. Und so kommt man einfach immer in Stresssituationen.“
Bei Mädchen und Frauen „genauer hinschauen“
Ihre Diagnose hat die 38-Jährige erst vor zwei Jahren erhalten, als sie mit einer Wochenbettdepression nach der Geburt ihrer Tochter Hilfe aufsuchte. „Mädchen fallen in der Schule nicht so auf wie die Buben, denn bei Frauen ist die Hyperaktivität nicht immer so extrem körperlich wie bei den Burschen“, sagt Fellner. Sie wünscht sich, „dass man da ein bisschen genauer hinschaut, weil Frauen sind oft verträumt oder sind in einer anderen Welt, und das fällt nicht so auf, auch weil sie oft nicht so stören in der Klasse, aber trotzdem bekommen sie viele Dinge vielleicht nicht so mit“.
Langer Leidensweg in der Schule
Ihre eigene Schulzeit sei vor allem in der Unterstufe bis zu einem Schulwechsel schrecklich gewesen, erzählt Fellner, die später zwei Studienabschlüsse und ein Diplom erlangte. „Ich hatte schlechte Noten, konnte nicht lange still sitzen, nicht zuhören. Ich habe sehr schnell das Interesse verloren. Die Lehrer haben leider nicht verstanden, dass, wenn ich etwas mit meinen Händen tue oder male, ich mich viel besser konzentrieren kann. Ich hatte Schlafstörungen, weil mir viel durch den Kopf gegangen ist, weil ich in der Schule von den Lehrern auch irgendwie diskriminiert wurde. Ich musste immer alleine sitzen, weil ich zu laut war oder geplaudert habe.“
Dank großer Unterstützung in ihrer Familie und dem Schulwechsel sei es dann aber später schulisch und akademisch viel besser gelaufen. „Entweder ich habe einen Hyperfokus, wo ich stundenlang an einer Sache sitze. Das habe ich zum Beispiel bei meiner Diplomarbeit gehabt und auch bei meiner Bachelorarbeit. Das waren Themen, die mich wahnsinnig interessiert haben. Ich habe nicht gegessen, getrunken, bin stundenlang gesessen. Das hat funktioniert. Aber sobald ich eine Pause machte, ist dieser Fokus unterbrochen gewesen.“
Kreativität und „Out of the box“-Denken
Häufig trifft man bei Menschen mit ADHS auf herausragende Kreativität und „Out of the box“-Denken, also auf unkonventionelle Denkweisen, wird immer wieder hervorgestrichen. „Sie haben einen Blick auf Lösungen, die vielleicht erst einmal etwas abwegig wirken, aber die im Endeffekt dann vielleicht schneller zum Ziel führen, als wenn man einen klaren Weg und einen genauen Ablauf von Systemen verfolgt“, erklärt Eisner, Vorsitzender von Team ADHS. Er ist Sozialpädagoge, Krankenpfleger Psychotherapeut in Ausbildung, ADHS-Coach und Bio- und Neurofeedback-Trainer – und er hat selbst eine ADHS-Diagnose.
Die Vorteile und Stärken, die ADHS auch mit sich bringt, kann die Fotografin gut nutzen: „Ich sehe dadurch, dass ich sehr reizoffen bin, viele Dinge um mich herum, was in der Fotografie natürlich vorteilhaft ist, weil mir Details auffallen, die andere oft nicht entdecken.“ Sie sei ein sehr offener, neugieriger Mensch und lösungsorientiert. „Kreativität hilft ja auch bei Problemen. Man sieht Dinge ein bisschen auf Umwegen vielleicht, aber man findet dann eine Lösung. Man erstarrt nicht in einer Ohnmacht.“
Nicht faul, respektlos, desinteressiert
Manche Menschen mit ADHS beschreiben ihren Zustand mit viel Lärm oder Dauerstress im Kopf. Fellner hat ein anderes Bild: „Ich beschreibe mein ADHS immer so: Das ist wie eine Wolke, und da schwirrt ganz viel herum, und man kann diese Dinge nehmen und daraus was Schönes machen. Man muss sie nur greifen können.“
Neben der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwäche kommt bei ADHS meist noch eine schlechte Impulskontrolle hinzu, das heißt, Betroffene handeln manchmal, ohne darüber nachzudenken – oft mit negativen Konsequenzen. „Eines der Probleme bei ADHS ist, dass das, was bei ADHS anders funktioniert oder auffällt, Verhaltens- und Reaktionsweisen sind, die man gemeinhin als Respektlosigkeit, Desinteresse oder sogar als Verstoß gegen moralische oder soziale Vorstellungen ansieht“, sagt Hartl. Oftmals werden Betroffene auch als faul angesehen.
„Reiß dich zusammen“
„Reiß dich zusammen“ – das hören Menschen mit ADHS häufig – und das zu Unrecht. In Therapie oder in einem Coaching können sie mehr über ADHS und natürlich über sich selbst lernen und damit auch, wie sie mit ADHS besser umgehen können. Von Fall zu Fall helfen auch Medikamente und die Einsicht, dass ADHS eben auch Stärken mit sich bringt – auch unerwartete.
So seien Menschen mit ADHS für Berufe, in denen rasch und unter Stress gehandelt werden muss, besonders gut geeignet, sagen Experten. „Spannend ist, dass wir es immer wieder beobachten, dass ADHS-Menschen zwar etwas verwirrt wirken können, aber wenn ein Notfall passiert und viele erst mal geschockt sind, scheint es so zu sein, dass ADHS-Menschen sehr schnell begreifen, was sie jetzt machen müssen, und sofort zum Handeln bereit sind“, erklärt Eisner.
Stress erwünscht – „aber am besten mit Gleitzeit“
Fellner kann das nur bestätigen: „Also ich glaube, viele ADHSer sind Notärzte, weil wir reagieren schnell. Ich kann sehr schnell reagieren auf irgendeine Situation.“ Sie habe auch schon in der Gastronomie, in der PR, im Eventmanagement und im Marketing gearbeitet – „alles Jobs, wo ich meine Stärken ausspielen konnte. Es waren stressige Berufe, aber genau das hat mir sehr gefallen. Und wenn man dann auch noch eine Gleitzeit hat, dann ist das ideal.“
Bei rund einem Drittel jener Menschen, bei denen in der Kindheit ADHS diagnostiziert wurde, verbessern sich die Symptome und Schwierigkeiten im Erwachsenenalter, wird geschätzt. Doch viele haben ein Leben lang zu kämpfen.
„Es wächst sich nicht aus"
„Es wächst sich definitiv nicht mit der Jugend aus, wenn, dann verkriecht es sich höchstens nach innen. Das beginnt in der Kindheit, dass man sich ständig anhören muss, man ist zu spät, man hat wieder etwas nicht geschafft. Und zwar nicht so, wie es jedem passiert, dass man mal zu spät ist oder mal was nicht geschafft hat, sondern es zieht sich wie ein roter Faden durchs ganze Leben, sodass man irgendwann den Eindruck hat, ‚ich bin anders als alle anderen‘, und man fällt aus dem Raster“, schildert Eisner eine häufig zu beobachtende Spirale.
Im Extremfall könne das bis zur Drogensucht führen. „Ich bin sicher, dass 80 Prozent aller Alkohol- und Drogenabhängigen irgendwo ein ADHS schlummern haben, das nie entdeckt wurde.“ Die Selbstzweifel münden oft auch in Depressionen.
Bereicherung auch für Unternehmen
Wichtig sei in ihrer Arbeit, dass die Betroffenen lernen, sich selber nicht so streng zu behandeln und sich nicht zu übernehmen, sind sich Hartl und Eisner einig. Denn auch wenn mit ADHS meist überschießende Energie assoziiert werde, sei tatsächlich das genaue Gegenteil der Fall: „In Wirklichkeit ist die Energie längst verbraucht, und es wird gehandelt über das Maß der Energie hinaus. Das heißt, man braucht eigentlich immer wieder Ruhephasen, kleine Oasen für sich“, betont Eisner.
Hartl und er plädieren für mehr Verständnis und Toleranz für ADHS in der Gesellschaft. Und langsam entdecken auch Unternehmen, dass Menschen mit ADHS für sie eine Bereicherung, ein Mehrwert sein können. Denn sie bringen oft neue Ideen, Perspektiven und Lösungen ins Spiel und nehmen vieles besonders genau wahr. „Sie haben einfach eine Möglichkeit, emotional auf Dinge einzugehen, die andere noch nicht einmal gesehen haben“, so Eisner.
Strukturen als Gratwanderung
„Es ist ja oft wichtig, Strukturen zu haben, aber man muss hinschauen und sehen, wo ist es nicht nötig und wo kann ich ein Setting so verändern, dass es für einen Menschen, der vielleicht der wertvollste Mitarbeiter sein könnte, aber zufällig die Pünktlichkeit gar nicht auf die Reihe kriegt, dass es einfach trotzdem passt“, ergänzt Hartl. Oder wie Fellner sagt: „Ich brauche Struktur, aber dann auch wieder nicht. Es ist sehr schwierig, diesen schmalen Grat zu finden.“
Author: Michael Bush
Last Updated: 1702424882
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